Bauen mit dem Klimawandel
Nahezu jedes Schweizer Wohngebäude verfügt heute über eine Heizung, nur wenige besitzen ein Kühlsystem. Ein erfolgsversprechender Ansatz ist das Geocooling – wie es schon in der Suurstoffi erfolgreich betrieben wird.
Gianrico Settembrini, Senior Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gebäudetechnik und Energie IGE
06. September 2018
Es ist zu erwarten, dass das Klima der Schweiz im Lauf des 21. Jahrhunderts signifikant vom heutigen Zustand abweichen wird. In der Deutschschweiz ist es im Verlauf des letzten Jahrhunderts rund 1.3 °C wärmer geworden. Dieser Trend wird sich laut Prognosen der Klimaforschung fortsetzen. Je nach Szenario und Region wird bis zum Ende des Jahrhunderts eine Zunahme der jahreszeitlichen mittleren Temperatur von 3.2 bis 4.8 °C vorausgesagt (siehe Abbildung).
Im Auftrag des Bundesamts für Energie und des Bundesamts für Umwelt hat eine aktuelle Studie der Hochschule Luzern in Zusammenarbeit mit MeteoSchweiz die Folgen des fortschreitenden Klimawandels auf den Energiebedarf und die Behaglichkeit in Schweizer Wohnbauten bis ins Jahr 2100 untersucht.
Der Wohnbaupark wurde dabei anhand von vier realen Beispielgebäuden – zwei Alt- und zwei Neubauten – repräsentiert. In Simulationen wurde deren Verhalten in der Periode «2060» (2045 – 2074) mit demjenigen in der Referenzperiode «1995» (1980 – 2009) am Standort Basel verglichen (siehe Abbildung).
Der durchschnittliche Heizwärmebedarf bei den Altbauten reduzierte sich um 20%. Der Klimakältebedarf stieg exponentiell an, blieb aber im Vergleich zum Heizwärmebedarf unbedeutend. Die notwendige Kühlleistung machte dennoch 30 bis 40% der Heizleistung aus. Bei den Neubauten reduzierte sich der Heizwärmebedarf um 30%. Der Klimakältebedarf erhöhte sich auf rund 50% des Heizwärmebedarfs. Die notwendige Kälteleistung betrug das Doppelte der Heizleistung.
Weitere Simulationen an einem Referenzgebäude mit Minergie-Standard bestätigen das Bild: Die maximal empfundene Raumtemperatur in den Wohnräumen erhöhte sich dort vom Extremsommer 2003 zu einem warmen Sommer der Periode «2060» von 29.7 °C auf 32.0 °C. Die jährlichen Überhitzungsstunden (nach SIA 180:2014) stiegen dabei von etwa 200 auf 900 an. Die Erfüllung der Komfortanforderungen hatte massive Effekte auf den dafür erforderlichen Klimakältebedarf. Dieser erhöhte sich von weniger als 2.0 auf 8.2 kWh/m²a und würde den heutigen durchschnittlichen Heizwärmebedarf von 7.5 kWh/m²a übersteigen.
Simulationen am Standort Lugano zeigten die eindrücklichen Auswirkungen des Klimawandels in der Südschweiz auf: Für 2063 wurden dort 1400 Überhitzungsstunden berechnet, was nahezu einem Drittel des Sommerhalbjahrs entspricht. Der Klimakältebedarf erhöhte sich auf 18.4 kWh/m²a, der Heizwärmebedarf sank gleichzeitig auf 1.5 kWh/m²a.
Die Beispiele verdeutlichen die künftige Verschiebung der Bedeutung von der Bereitstellung der Heizwärme (Winterbetrachtung) hin zur Gewährleistung von behaglichen Räumen (Sommerbetrachtung).
Geocooling-Ansatz
Damit Wohnbauten über deren Lebenszyklus hinweg den Folgen des Klimawandels standhalten können, sind bereits heute Massnahmen zu treffen. Gebäude müssen so konzipiert werden, dass die Effizienz von Sonnenschutz und Nachtkühlung sichergestellt werden kann. Eine Lösung dafür könnte die Automatisierung der Systeme bilden. Angesichts des immensen Einflusses des Fensteranteils auf den Klimakältebedarf erscheinen diesbezüglich differenzierte Normen oder Vorschriften angebracht. Ein hoher Verglasungsanteil könnte an spezifische Vorgaben zur Gewährleistung von Behaglichkeitskriterien gekoppelt werden, beispielsweise an ein Geocooling.
Bei Geocooling führt das Wärmeverteilsystem eines Gebäudes – zum Beispiel die Bodenheizung – in den Sommermonaten die Wärme mit wenig Energieaufwand aus den Wohnräumen ab. Sie wird über Erdsonden ins Erdreich geleitet und gespeichert. Im Winter wird mit Wärmepumpen die im Erdreich gespeicherte Wärme für die Heizung des Gebäudes genutzt. Das innovative Konzept wird in der Suurstoffi bereits mit Erfolg angewendet.
Werden heutige Neubauten dementsprechend so angedacht, dass sie dem steigen-den Klimakältebedarf begegnen können, kann der Klimawandel bzw. die daraus folgende Minderung des Heizwärmebedarfs dazu beitragen, den Zielen der Energiestrategie näherzukommen. Werden die Auswirkungen der höheren Aussentemperaturen nicht beachtet, drohen ein markanter Anstieg des Energiebedarfs oder viele Stunden mit unbehaglichem Raumklima.
Der Autor
Gianrico Settembrini, dipl. Architekt ETH/ SIA, MAS EN Bau, ist seit 2013 Senior Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gebäudetechnik und Energie IGE. Er leitet die Forschungsgruppe «Nachhaltiges Bauen und Erneuern» und ist an der Zertifizierungsstelle Minergie® Zentralschweiz tätig. Seit 2016 ist er Prüfer für Anträge des Standards Nachhaltiges Bauen Schweiz SNBS 2.0 und 2000-Watt-Areal-Berater.